Versinnlichung by Lidia Gasperoni

Versinnlichung by Lidia Gasperoni

Autor:Lidia Gasperoni
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter De Gruyter
veröffentlicht: 2016-03-15T00:00:00+00:00


3. Die Funktion der Sinnlichkeit und das Gehör als Sinn der Sprache

Die Sinne gewinnen schon in den früheren Schriften Herders als Bedingungen der Sprache und der Erkenntnis an Bedeutung. Die Sinne, die Kant in der Anthropologie behandelt – und zwar nicht im Rahmen der schematischen und symbolischen Darstellung –, erfahren bei Herder die aufgezeigte Aufwertung. Ohne die Sinne, so lautet Herders Grundauffassung, würde das Denken nicht zur Gestaltung kommen. Die Sinne vollziehen daher die Präformation der Empfindungen; sie sind eng mit der Sprache verbunden und bereiten das Terrain für das Verstehen. Zur Verdeutlichung sei noch einmal der wegweisende Satz angeführt: „Die Sinne präformieren, d.i. sie bilden ihm [dem Verstand] das Mannigfaltige zu Einem, das er sich nicht erschafft, sondern anerkennend sich aneignet und eben hierdurch Verstand ist“.730

Das Verhältnis zwischen Sinnen und reinen Anschauungen – das bei Kant in den Tiefen der anthropologischen Reflexion rekonstruiert werden musste731 – ist für Herder offenkundig. Was das grundsätzliche Verständnis der Sinne angeht, unterscheiden sich meines Erachtens Kant und Herder jedoch nicht wesentlich. Beide heben die sprach- und erkenntnistheoretische Funktion der ‚objektiveren‘ Sinne (also Gesicht, Gehör und Tastsinn) hervor, und finden vergleichbare Unterschiede zwischen ihnen, die sich grob zusammengefasst wie folgt ausnehmen: Das Gesicht ermöglicht die Bildung der figürlichen Gestalt, während der Tastsinn zur Bildung einer körperlichen Gestalt führt und das Gehör der Sinn der Sprache ist.

Jedoch ist die Stellung der Sinne bei beiden zu unterscheiden: Bei Kant ist die Funktion der Sinne nicht transzendental, sondern physiologisch und anthropologisch konnotiert, und die Verbindung zwischen Sinnen und Anschauungen wird bei ihm erst im Rahmen der Bestimmung von Gestalten, Bildern und Wörtern ausgeführt. Diesbezüglich ist deutlich geworden, dass Kant – obwohl er den Sinnen keine ausdrücklich transzendentale Stellung zuspricht – die semantische Artikulation zwischen Bildern und Wörtern in seiner Transzendentalphilosophie ohne Rückgriff auf die Sinne nur unzureichend erklären kann, insbesondere weil das Gehör für Kant wesentlich zum Gebrauch abstrakter Begriffe beiträgt, ohne dass Kant damit die begriffliche Anwendung und Subsumption erhellen könnte. Im Gegensatz dazu ist die Bezeichnung bei Herder durchaus auf die Sinnlichkeit zurückzuführen, die das Denken gestaltet. Folglich bettet er das Bezeichnungsvermögen in die bestimmende und – wie im nächsten Kapitel deutlicher werden wird – auch die symbolische Darstellung im kantischen Verständnis ein,732 die sich daher nicht voneinander trennen lassen. Der Metaschematismus erklärt so, inwiefern im Denken immer schon eine Versinnlichung am Werk ist, da ohne sie keine Gestaltung möglich wäre, die den apriorischen Charakter der Begrifflichkeit aufhebt.733

Meine Auslegung ist zunächst als ein Versuch zu verstehen, die bei Kant rekonstruierte Versinnlichungslehre durch das Verständnis der Sinne bei Herder zu erweitern, die jedoch nicht frei von anthropologischen und ästhetischen (im Sinne einer Schönheitslehre) Implikationen ist, wie ich am Ende dieses Kapitels zeigen möchte. Daher möchte ich im Folgenden zunächst Herders Verständnis der Sinne direkt mit der Transzendentalphilosophie Kants in Beziehung setzen, weil auf diese Weise die Interpretation des Schematismus als semiotischem und semantischem Prozess schärfere Konturen gewinnt. Dazu muss geklärt werden, inwiefern die aufgezeigte Physiologisierung der Psychologie durch Herder tatsächlich mit der Transzendentalphilosophie Kants kompatibel ist.



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